Die Schule als Chinesisches Zimmer. Oder: Wie man Kompetenzen simuliert

Von John Searle (1980, 1984) stammt eines der einflussreichsten Gedankenexperimente aus dem Bereich der Philosophie des Geistes. 

Es ist unter dem Namen Chinese Room Argument bekannt geworden und beschäftigt sich – vereinfacht gesagt – mit der Frage, ob Computer denken können (vgl. zum Einstieg Bertram 2012 oder Nimtz 2013, vertiefend Preston/Bishop 2002 und aus didaktischer Perspektive Krommer 2015).

Die genuin philosophischen Aspekte des Gedankenexperiments – insbesondere die intendierte Widerlegung des Funktionalismus bzw. der strong Artificial Intelligence – spielen im Folgenden keine Rolle. 

Stattdessen wird der „Versuchsaufbau“ des Chinesischen Zimmers herangezogen, um zu zeigen, wie u.a. durch Edu-YouTuber begünstigte Kompetenz-Simulationen zeitgemäßes Lernen erschweren.

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Dimensionen der Bildung. Oder: vom Flächenland der Buchkultur ins Raumland der Digitalität

Vorbemerkung für eilige Rezipient(inn)en:

Der folgende Text ist – für einen Blogbeitrag – sehr lang. Die Grundidee besteht darin, Abbotts Klassiker „Flatland“ (1884) auf den aktuellen Bildungsdiskurs zu beziehen. Wer Abbotts Buch kennt, kann die Lektüre in Abschnitt 2 („Dimensionen der Bildung“) beginnen. Eine rudimentäre Form der Argumentation ist in diesem Video zu finden.

1. Flatland. A Romance of Many Dimensions

Edwin A. Abbotts Buch „Flatland. A Romance of Many Dimensions“ (1884) besitzt selbst viele Dimensionen: Es ist – unter anderem – ein Klassiker der Science-Fiction-Literatur, ein geistreiches philosophisches Gedankenexperiment, eine Einführung in bestimmte Bereiche der Geometrie, eine satirische Auseinandersetzung mit dem viktorianischen Sozial- und Wertesystem und nicht zuletzt „an allegory aimed at correcting the arrogance of the materialist intellect and dogmatic faith and at demonstrating the progressive force of imagination.“ (Jann 1985, S. 486).

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Zeitgemäße Prüfungsformate für den Distanzunterricht (am Beispiel des Faches Deutsch in NRW)

Von Ricarda Dreier, Axel Krommer, Björn Nölte und Oliver Schmitz

(Update vom 19.08.2020: Eine wesentlich erweiterte Fassung dieses Textes, in die Feedback von Kolleginnen und Kollegen eingegangen ist, ist hier zu finden.)

Der folgende Text ist ein Beitrag zur Diskussion über Prüfungsformate, die auch im Distanzunterricht funktionieren. Er bezieht sich zum Teil sehr explizit auf die schulrechtlichen Grundlagen in NRW, richtet sich jedoch prinzipiell an alle, die über zeitgemäßes Lernen und Lehren nachdenken. 

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Paradigmen und palliative Didaktik. Oder: Wie Medien Wissen und Lernen prägen.

„Transform the medium by which we develop, preserve, and communicate knowledge, and we transform knowledge.“ (Weinberger 2011, IX)

Der folgende Text stellt den Versuch dar, den aktuellen Diskurs über zeitgemäße Bildung aus einer kulturhistorischen Perspektive zu beleuchten. Es soll zumindest in Ansätzen gezeigt werden, wie Medien als gesellschaftliche und kulturelle Formen zentrale Konzepte wie Wissen und Lernen prägen und warum Prozesse der Schulentwicklung so quälend langsam sind.

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Wider den Mehrwert! Oder: Argumente gegen einen überflüssigen Begriff

Die Frage nach dem Mehrwert digitaler Medien für den Unterricht wird seit (mindestens) zwei Jahrzehnten hartnäckig gestellt. Wann immer innovative Ideen formuliert werden, scheint der Mehrwert das ultimative Kriterium zu sein, das über die didaktische Güte eines Konzepts entscheidet. Im Folgenden soll für die These argumentiert werden, dass der Mehrwert-Begriff unklar, irreführend, bewahrpädagogisch und letztlich überflüssig ist.

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Wie ein Common-Sense-Medienbegriff zu pädagogischen Fehlschlüssen führt

Das Nachdenken über den Medienbegriff wird häufig als theoretisches Glasperlenspiel angesehen, das allerhöchstens im praxisfernen Lehnstuhl des wissenschaftlichen Elfenbeinturms seinen Platz hat.

Im Folgenden soll an einem aktuellen Beispiel aus einem höchst einflussreichen Buch gezeigt werden, wie ein inadäquater Medienbegriff zu pädagogischen Fehlschlüssen führt, die erhebliche Folgen für die konkrete Unterrichtswirklichkeit haben können.

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Warum der Grundsatz „Pädagogik vor Technik“ bestenfalls trivial ist

Der Grundsatz „Pädagogik vor Technik“, der im aktuellen Diskurs über Bildung und Digitalisierung sehr häufig zu hören ist, hat mindestens drei Lesarten, die im Folgenden kurz kritisch betrachtet werden. „Pädagogik vor Technik“ kann demnach meinen,

  1. dass Technik dem Menschen dienen sollte, nicht der Mensch der Technik.
  2. dass man sich zunächst auf das pädagogische Kerngeschäft konzentrieren sollte, bevor man das Klassenzimmer für Technik öffnet.
  3. dass pädagogische Entscheidungen vor technischen Entscheidungen getroffen werden müssen.

Es wird sich herausstellen, dass Lesart (1) zwar wahr, aber bestenfalls trivial ist, während die Lesarten (2) und (3) falsch sind und schlimmstenfalls dazu führen, insbesondere die Potenziale digitaler Medien für den Unterricht zu verkennen.

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Twitter als Commonplace Book – ein Experiment.

In den letzten drei Monaten habe ich ein kleines Experiment durchgeführt: Meine persönlichen Lektürenotizen habe ich nicht – wie sonst – für mich privat gespeichert, sondern ins Netz geschrieben und Twitter gleichsam als Commonplace Book genutzt.

Commonplace Books sind Notizbücher, die in der Tradition der mittelalterlichen Florilegia stehen und deren Blütezeit mit der Renaissance nicht zuletzt deshalb begann, weil das teure Pergament durch kostengünstiges Papier abgelöst wurde und auf diese Weise neue Möglichkeiten der Speicherung von Wissen möglich wurden. Ursprünglich dienten sie zur Sammlung von Sprichwörtern und anderen Gemeinplätzen (=„loci communes“), von denen sich die Bezeichnung „Commonplace” ableitet. Eine umfassende kulturhistorische Betrachtung der Commonplace Books und der Geschichte des „Note-Takings” findet sich in den Werken von Ann Blair (2010) und Richard Yeo (2014). 

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Notizen zur Machtstruktur des Web-Kommentars

Kommentare sind ein wesentliches Element des Mitmach-Webs: Wenn Online-Texte nicht nur gelesen, sondern auch kommentiert werden können, verwandeln sich vormals passive Konsument(inn)en in aktive Produzent(inn)en: Kommentieren heißt partizipieren.

Die These, die im Folgenden begründet werden soll, mutet vor diesem Hintergrund paradox an. Sie lautet: 

Die primäre Funktion des Web-Kommentars besteht nicht darin, Partizipation zu ermöglichen, sondern hierarchische Machtstrukturen zu etablieren und zu festigen: Kommentare führen nicht zu einer echten Ermächtigung der Rezipient(inn)en, sondern tragen regelmäßig zu ihrer Ohnmacht bei.

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Tur-Tur-Empirie. Oder: die diskursive Instrumentalisierung von Pseudo-Wissenschaft

Unter der Überschrift „Virtuelles Pubquiz: (k)ein Kahoot! mit Mehrwert“ haben Höfler, Strasser, Buchner und Weißenböck einen Aufsatz verfasst, in dem „das virtuelle Pubquiz  als methodisch-didaktisches Format vorgestellt [wird]“ (Höfler et al. 2020, S. 1).

Der Text ist vor allem wegen seiner Argumentationsstrategie interessant:

Zunächst wird die vielfach geäußerte didaktisch-methodische Kritik an Quiz-Formaten als bloß subjektive Meinungsäußerung diskreditiert, die emotional gefärbt ist und bestenfalls anekdotische Evidenz besitzt (vgl. ebd., S. 10-11). Dann werden internationale empirische Untersuchungen mit unterschiedlichen Forschungsinteressen als wissenschaftlicher Gegenpol zu dieser fragwürdigen Subjektivität aufgebaut (vgl. ebd., S. 11).

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Warum wir kein digital gestütztes Lernen brauchen – ein Bildungs-Puzzle

Der vorliegende Text zeigt, dass sich der häufig verwendete Ausdruck „digital gestütztes Lernen“ nahtlos in ein wirkmächtiges Bild von Schule und Unterricht einfügt, das mit den Prinzipien des zeitgemäßen Lernens nur in den seltensten Fällen kompatibel ist. Die einzelnen Puzzle-Teile dieses Bildes werden im Folgenden kurz skizziert, erläutert und am Ende sogar buchstäblich zusammengesetzt. 

Der Text stellt keine pauschale Abwertung des Ausdrucks „digital gestütztes Lernen“ dar. Und er impliziert erst recht keine pauschale und undifferenzierte Verurteilung derjenigen, die ihn verwenden.

Vielmehr geht es um die gezielte Kritik bestimmter Verwendungsweisen und um begriffliche Affordanzen: Argumentiert wird für die These, dass der Begriff eher dazu einlädt, über die Fortsetzung des traditionellen Unterrichts mit digitalen Hilfsmitteln nachzudenken, als die Auswirkungen des kulturellen Wandels auf das schulische Lernen zu reflektieren.

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Didaktische Schieberegler. Oder: (Distanz-)Lernen und pädagogische Antinomien

Gemeinsam mit Philippe Wampfler und Wanda Klee habe ich im Auftrag des Ministeriums für Schule und Bildung des Landes NRW sechs Hinweise zum Distanzlernen verfasst. 

(Abb. 1: Kurzform der Hinweise zum Distanzlernen. Screenshot)

Die sprachliche Gestaltung dieser Hinweise spiegelt sehr bewusst eine antinomische Struktur wider, die ganz allgemein für pädagogische Prozesse charakteristisch ist. Kant hat sie in seiner Schrift  „Über Pädagogik” (1803, S. 32) in folgende Frage gekleidet:

„Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?”

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„5G Corona“. Oder: algorithmische Isosthenie

Am 26.05.2020 wurde ein Tweet von Donald Trump, in dem es um potenziellen Wahlbetrug bei Briefwahlen ging, von Twitter durch einen Faktencheck ergänzt: „Get the facts about mail-in ballots“.

Wer dieser Einladung folgt, findet u.a. eine sorgsam kuratierte Liste von Quellen, die Belege dafür liefern, dass Trump unhaltbare Behauptungen aufstellt. Die Kontroverse zwischen Trump (A) und Twitter (B) lässt sich stark verkürzt und formalisiert wiefolgt darstellen:

  • A behauptet: p 
  • B behauptet: nicht-p.

Neben der sympathetischen Zirkularität, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sich A und B wechselseitig versichern, wie großartig sie einander finden, ist die kritische Konfrontation von p und nicht-p eines der kommunikativen Grundmuster im Netz. Es weist nicht zufällig Ähnlichkeiten mit dem  Isosthenie-Prinzip der pyrrhonischen Skepsis auf (vgl. hierzu Hossenfelder 1985, S. 42ff. und Gabriel 2013, S. 210ff.). 

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Digitaler Lobbyismus und Whataboutismus – eine kleine argumentative Fingerübung

In einem aktuellen Dossier der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) werden die Aktivitäten der Digitalindustrie im Bildungsbereich kritisch beäugt: Schulen seien „ins Visier“ der großen Konzerne geraten und die Digitalisierung werde als „Einfallstor“ genutzt, um wirtschaftliche Interessen durchzusetzen (vgl. S. 2).  Auch wenn man nicht sofort zu Kriegsmetaphorik greifen muss: Das (politische) Lobbying der Digitalkonzerne ist ein gravierendes Problem.

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